Hannah Arendt revisited: Elemente und Ursprünge digitaler Auflösung der Wirklichkeit von Regula Stämpfli an der HSG – Universität St. Gallen.
Politische Philosophie: Diese Vorlesung beschäftigt sich mit Fiktionen, technischer Reproduktion, Digitalisierung und der «Eroberung der Welt durch Narration und Zahl» auf den Spuren Hannah Arendts. Die Kombination von «monokausalen Narrativen» und «automatisierter digitaler Reproduktion» erschafft ein neues «Zeitalter der totalen Gewissheit», analysiert die Politphilosophin Stämpfli, die durch diese Vorlesung führt. Die Urteilskraft gegenüber richtig und falsch bleibt dabei oft auf der Strecke. Wir gehen in der Vorlesung unterschiedlichen Beispielen nach, die «den Verstand mit Argumenten so bezaubern» (Hannah Arendt), damit der öffentliche Diskurs nur noch den Meinungen und nicht mehr der Information dient. Das Medium der Digitalisierung ist nicht nur die Message, sondern mehr und mehr totalitäre Ideologie. Datenpakete «beweisen» gegenüber der Wirklichkeit bald diese, bald jene Meinungen, so dass sie oft gar nichts mehr «wirklich» erklären. All dies macht die Existenz von uns als Bürgerinnen und Bürger, als Weltangehörige eines undurchsichtigen, datenbasierten Systems, fragil. Donnerstag, 18.15 bis 19.45 Uhr, Online (Podcast)
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Regula Stämpfli: Über die Wahrheit der Wirklichkeit, Nebelspalter 19.3.2021:
laStaempfli: wahr ist wirklich
Über die Wahrheit der Wirklichkeit Letzte Woche hielt ich einen Vortrag an der kleinen und feinen Fachhochschule für Design und Kunst in Luzern. Es ging um „Wahrheit“. Doch wie es so ist, lenkten mich die Fesseln codierter Ablenkung stundenlang vom Thema ab. Dabei fand ich viel Erstaunliches, Sinniges und erstaunlich Unsinniges: War „postfaktisch“ das Modewort des Jahres 2016 als – horribile dictu – Donald Trump zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, dominiert seit 2020 der denglische Begriff „Lockdown“. Ein „lock“ oder „to lock“ gibt es seit dem 13. Jahrhundert und hatte eigentlich einen hübschen, romantischen Anfang. „Loken love“ besangen die Troubadoure ihre heimlichen Liebschaften und nicht wenige verloren dabei ihr Leben, weil sie gegen geltende „Lockdown“ – Beschränkungen verstießen und der Besungenen gar zu nahe kamen. Einmal im Lockdown-Surfmodus ging es weiter in meiner Recherche: Erinnern Sie sich noch daran, als alle von „social distancing“ sprachen? Eigentlich meinten die Statistikmediziner damit die räumliche Trennung von Lebewesen untereinander, doch WIRKLICH bezeichneten sie mit diesem Begriff, die totalitäre Vision eines politischen Programms, das jede von uns zur Vereinzelung, Isolation und Vereinsamung verdammte. Womit ich endlich wieder bei der Wahrheit landete. Selbstverständlich gehört ein flexibler Umgang mit der Wahrheit seit jeher zur Politik und es gibt durchaus Bedingungen, unter welchen es moralisch vertretbar ist, zu lügen. Aber die unverhohlene Art, mit der in jüngerer Zeit auch in Demokratien durch das Weglassen wichtiger Fakten digitales wie politisches Kapital auf Kosten von uns allen geschlagen wird, ist alarmierend. Einzig die Schweiz hält hier dagegen, indem Politik nicht einfach Labern, sondern Handeln impliziert. So geschehen am 7. März 2021 als die Stimmenden der Regierung eine saftige Klatsche verabreichten. Sie sprachen Wahrheit, die sich dadurch definiert, dass sie öffentlich, nachvollzieh- und legitimierbar ist: Nein zu privatisierten Plattform-Identitäten, nein zur postmodernen Perlenketten-Metaphern der auf Versklavung geschneiderten Verhüllung der Frau. Ebenso verwiesen die realen Bürger und Bürgerinnen pragmatisch, in meinen Augen leider zu kurzsichtig, aber trotzdem wahrhaftig, auf die Wichtigkeit internationaler wirtschaftlicher Beziehungen. Und da haben wir es wieder: Wahrheit, so auch Hannah Arendt, ist ohne Wirklichkeit nichts, im besten Falle eine Behauptung. Diese findet sich in der zeitgenössischen Berichterstattung digital und unendlich repetiert: Denn die kalten Regisseure ihrer eigenen Dunkelheit verbreiten sich perfekt via Tweets, Hashtags und Trends.
Wir alle leben seit über einem Jahr unwahr, unwirklich, unnormal. Doch statt dies plural, vielfältig und anregend zu diskutieren, werden wir wie Algorithmen in binäre Codes eingesperrt: Entweder gehören wir zur Gruppe der engen Umarmung unserer Regierungen oder wir partizipieren unter den Covidioten, deren Aluhüte noch das geringste Problem darstellen. Wirklich wahr ist weder das Eine noch das andere: wahr ist lediglich, dass am 13. März 2020 die Welt, wie wir sie kennen, zusammengebrochen ist. Höchste Zeit, endlich die Trümmer wegzuräumen und den Wiederaufbau zu wagen: Mit menschlichen Kernkompetenzen wie Kooperieren statt Gehorchen, Kommunizieren statt Rechnen, Begreifen statt auswendig lernen und erkennen, dass es kein Recht der Welt gibt, den Sinn von Politik, nämlich den der Freiheit, ein weiteres Jahr einfach auszusetzen.
REGULA STAEMPFLI. Über die Wahrheit der Wirklichkeit: 19.3.2021 im NEBELSPALTER
Letzte Woche hielt ich einen Vortrag an der kleinen und feinen Fachhochschule für Design und Kunst in Luzern. Es ging um „Wahrheit“. Doch wie es so ist, lenkten mich die Fesseln codierter Ablenkung stundenlang vom Thema ab. Dabei fand ich viel Erstaunliches, Sinniges und erstaunlich Unsinniges: War „postfaktisch“ das Modewort des Jahres 2016 als – horribile dictu – Donald Trump zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, dominiert seit 2020 der denglische Begriff „Lockdown“. Ein „lock“ oder „to lock“ gibt es seit dem 13. Jahrhundert und hatte eigentlich einen hübschen, romantischen Anfang. „Loken love“ besangen die Troubadoure ihre heimlichen Liebschaften und nicht wenige verloren dabei ihr Leben, weil sie gegen geltende „Lockdown“ – Beschränkungen verstießen und der Besungenen gar zu nahe kamen… Abonnieren Sie den Nebelspalter, um weiterzulesen