Frauen haben keine Sommerpause: Regula Stämpfli über Sichtbarkeit mit Links zu anderen tollen Frauen und deren Accounts.

VERBRECHEN IN BLAU

Regula Stämpfli

Es war einmal ein versuchter Mord, eine künstlerische Männerfreundschaft, Suizid, eine jüdische Familie und die typisch helvetische Gunst der Stunde. Dies alles verpackt in einem Gemälde von Pablo Picasso mit dem Titel „Dösende Trinkerin“, wahlweise auch „Schlafende Trinkerin“ oder „Eingeschlafene Trinkerin“ – allein im Titel beginnt die Story zu verwirren.

Eine verhärmte, in einen blauen Schal gehüllte junge Frau, durch den Absinth vorzeitig zur Greisin gemacht, sitzt zusammengesunken an einem runden Tisch. Vor sich ein Glas, mit Bestimmtheit leer, so blank wie die Zukunft dieses vom Schicksal gebeutelten Menschen. In Bern ist das Bild seit 1979 zuhause, momentan genießt es Reisefreiheit und hängt in der Albertina in Wien. Die Buveuse war schon viel unterwegs: Sie stand bei Gertrude Stein im Wohnzimmer, verpasste 1913 knapp die Armory-Show in New York und hieß beim damaligen französischen Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler noch ganz brav: „Frau am Tisch“. Sie war Leihgabe der Galerie Caspari in München, gehörte dem Ehepaar Troplowitz, wurde von den Nazis „gesäubert“ und landete zwecks Devisenbeschaffung in der Galerie Fischer in Luzern. Zwar erhob die Erbin des Ehepaars Troplowitz gerichtlich Einsprache, doch das Luzerner Gericht wies diese 1940 zurück. 1942 erwarb der Glarner Augenarzt Othmar Huber das Bild und fügte es seiner millionenschweren Kunstsammlung hinzu. Kurz vor dessen Tod 1979 wurden die Gemälde in einer Stiftung zusammengeführt und die Buveuse dem Kunstmuseum Bern überreicht. Juristisch alles korrekt, denn die „Säuberungsaktionen“ der Nazis gelten weitgehend als gesetzeskonform und sind von dem, was „Raubkunst“ genannt wird, ausgenommen.  

“la Buveuse assoupie” von Pablo Picasso (1913)

Die Bildlegende zur Trinkerin in der Wiener Albertina erzählt im Jahr 2021 nichts von ihrer bewegten Geschichte. Sie fabuliert lediglich, dass die Trinkerin die Züge von Carlos Casagemas trägt: Dieser Picasso-Freund, der sich „aus enttäuschter Liebe zu der Tänzerin Germaine Pichot in Paris“ erschossen hätte und über dessen Verlust der geniale Pablo kaum hinwegkam. Klingt nach einer sentimentalen Verzweiflungstat im Künstlermilieu mit feuilletonistischem Romantikpotential, war aber das Gegenteil: nämlich ein versuchter Mord durch Carlos Casagemas. Germaine Pichot war nicht einfach eine Tänzerin, sondern mit dem Bildhauer Pablo Gargallo verwandt und selbst Künstlerin. Sie unterhielt, wie es sich für Frauen gehört, mehrere Liebschaften, darunter auch eine mit dem impotenten Carlos. Todunglücklich darüber, dass er sein bestes Stück bei der fabelhaften Laure Gargallo, ihr eigentlicher Name, nicht hochkriegen konnte, reiste er mit Picasso nach Spanien, von dort aber bald wieder frühzeitig ab, beschaffte sich, zurück in Paris, eine Waffe und versuchte, mitten in einer Feier im l´Hippodrome, die Angebetete zu erschießen. Die Kugel verpasste glücklicherweise ihr Ziel, worauf Casagemas sich selbst richtete. Heutzutage spräche man, wäre Casagemas mit seinem Mord erfolgreich gewesen, von einer „Beziehungstat“, was einer Verhöhnung der ermordeten Frauen gleichkommt. Femizid lautet das präzise Wort für den Mord an Frauen, für dieses Kapitalverbrechen, das von Gesetzes wegen als solches auch zu ahnden ist. Die Anzahl Morde seien, so die erfreuliche Nachricht in Deutschland, in den letzten Jahren massiv zurückgegangen, nur die Morde an Frauen blieben erstaunlich hoch. In Deutschland versucht täglich ein Mann eine Frau zu töten, sie wird meist „Ex“ genannt; jeden dritten Tag ist ein Mann als Mörder einer Frau erfolgreich. Es reicht. Frauenmorde in den Medien als verständliches, privatisiertes Missgeschick zwischen Mann und Frau darzustellen, ist übelst Schönsprech und Propaganda für Frauenhass. Gerade in den feinen Kunstkreisen ist es höchste Zeit, Tacheles zu reden. In der Kunstgeschichte wimmelt es nämlich von erfolgreichen Männern, die ihre Frauen fast zu Tode prügelten oder sie ermordeten und nach derartigen „Beziehungstaten“ unbeschwert ihre Karriere fortsetzten. Frauenmord als Alltag gehört ins Zentrum zur Diskussion über Geschlecht. Medial, akademisch und in den sozialen Medien passiert indessen das Gegenteil. Solange Frauen Angst haben müssen davor, dass sie ermordet werden, von Männern, deren größte Angst darin besteht, lächerlich zu wirken, solange gehören Kapitalverbrechen präzise beschrieben. Und sei dies „nur“ auf einer Bildlegende. Denn gerade Kultur ist perfekt darin, wirkliche Taten so zu cachieren, dass wir Hunderte von Jahren später Künstler als Verbrecher, ihres Werkes wegen, von jeglicher Schuld freisprechen.

Vielleicht hat Picassos Trinkerin all dies tief in sich erahnt und sich mit einer Flasche Absinth die traurige Realität einfach wegtrinken wollen.

und Schwerpunkte. Deshalb: Kauft Bücher von uns, von Frauen und redet darüber!

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