Regula Stämpfli: “100 Jahre Gegenwart”. Buchrezension zu Schöllgens “100 Jahre Krieg”, das im Ukrainekrieg topaktuell ist.

Spätestens seit der Grande Guerre gibt es keine Hofnarren mehr. Seitdem fällt das Lachen ebenso schwer, wie die echten Possenreiter fehlen, die sich ungestraft über den König lustig machen und Wahrheiten aussprechen können, die sich das Volk normalerweise nur hinter vorgehaltener Hand zutuschelt. Oder können Sie sich einen Bajazzo im saudischen Palast oder gar bei den iranischen Geistlichen vorstellen? Eben. Nur in den freien Ländern werden Politiker gnadenlos humoristisch auseinandergenommen, so «lustig», dass aus dem Witz statt Demokratie nur noch Politverdrossenheit rauskommt und viele der Schenkelklopfer dann gerne üble Männerfiguren wählen, die vorgeben, «bürgerlich» zu sein. All denen sei die Lektüre von «Krieg» empfohlen. Allen anderen auch.

Regula Stämpfli: "100 Jahre Gegenwart". Buchrezension zu Schöllgens "100 Jahre Krieg", das im Ukrainekrieg topaktuell ist.

Ein Bild aus den Männerfantasien zum Krieg: Gudrun Ensslin im typisch deutschen Theater als Kriegsamazone.

Zur strategischen Synthese von Geschlecht siehe Regula Stämpfli https://regulastaempfli.eu/wp-content/uploads/2017/02/Traverse-1999-Geschlecht.pdf

Zum Thema Kunst, Kultur, Krieg: “Im Übrigen sind wir der Meinung, die Männerquote muss weg” aus #diepodcastin.

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts hat alle gültigen Verhältnisse zerstampft und zerstört. Sie hat kein Band mehr gelassen zwischen Mensch und Mensch, sondern das Maschinengewehr zum bestimmenden Schlag der Moderne gemacht. Seitdem regiert die gefühllose Ägide nackter Interessen und Zahlen. Nation, Vaterland, Männerkraft wurden ebenso hinweggefegt wie Gott, Nächstenliebe und Zukunft. Ethnische Säuberungen, die Ausrottung des europäischen Judentums, die Islamisierung der arabischen Welt, Ford Model T, Klimakatastrophe, Silicon Valley, Atombombe, die Automatisierung des Menschen mit der Uberpornografisierung des Alltags weltweit? Dem Ersten Weltkrieg «sei Dank». Die Grösse des Krieges, der 1914 begann, bleibt bis heute unterdrückt, wird in aktuellen politischen Debatten verdrängt, verkitscht und viel zu selten als Zeitgeist beschrieben, der bis heute andauert. Wenn wir nämlich genauer hinschauen, wartet die Welt bis heute auf einen Frieden dieses über hundertjährigen Krieges.