Das Virus stürzt Demokratien in den Abgrund: Regula Staempfli avant la lettre in der NZZ mit Warnung an die Regierenden schon im Mai 2020.

Regula Staempfli über #Corona #Berichterstattung und was Hannah Arendt sowie die digitalen Plattformen damit zu tun haben. Und hier ganz aktuell und Weltpremiere: Lasst die digitalen Plattformen die Corona-Schulden tilgen. PS: Weltpremiere war schon im März 2020, beim ersten Lockdown, als die Menschen eingesperrt und die Maschinen übernahmen.

Die Kombination von «monokausalen Narrativen» und «virologisch basierter Datenhoheit» habe ein «Zeitalter der totalen Gewissheit» geschaffen, schreibt die Politikwissenschafterin Regula Stämpfli. Die Urteilskraft gegenüber Richtig und Falsch sei auf der Strecke geblieben.Regula Stämpfli am 9.5.2020 in der NZZ.

Einige erinnern sich vielleicht an Platos berühmten Kampf gegen die Sophisten. Er warf ihnen vor, ihre Kunst bestehe darin, «den Verstand mit Argumenten zu bezaubern», die nicht der Wahrheit dienten, sondern darauf abzielten, Meinungen zu erzeugen. Solange diese plausibel erscheinen, «liegt ihnen die Kraft der Überzeugung inne». Hannah Arendt nennt dies den «temporären Sieg der Argumente auf Kosten der Wahrheit». In meinem Buch «Trumpism. Ein Phänomen verändert die Welt» zeichne ich nach, wie postmoderne Narrative, die sich «datengestützt» als Wahrheiten inszenieren – hier als bestes Beispiel die Umfragen –, letztlich intendieren, monokausal den Sieg über die Wirklichkeit zu erringen.

Die neuen digitalen Herren inklusive ihrer Instrumente «Plattformkapitalismus» sowie «digitaler Überwachungsstaat» zerstören mittels der «Algorithmisierung der Welt» empirische Realitäten mit derart präzise berechneter Schlüssigkeit, dass der Unterschied zwischen Fiktion und Realität für die meisten von uns nicht mehr erkennbar ist.

Das trügerische Datenpaket

Damit steht auch die Existenz geschichtlicher Realitäten, wie sie sich beispielsweise in demokratischen Entscheidungsprozessen manifestieren, auf dem Spiel. Datenpakete «beweisen» gegenüber der Wirklichkeit bald jene, bald andere Meinungen, so dass sie oft gar nichts mehr «wirklich» erklären. All dies macht die Existenz von uns als Bürgerinnen und Bürger, als Weltangehörige eines undurchsichtigen datenbasierten Systems fragil.

Es gibt keine «neue Normalität» für die Demokratien mehr, selbst nach einem möglichen Corona-Impfstoff.

«Wie soll man das Chaos der überlieferten Tatsachen noch ordnen, wenn die Tradition nicht mehr gültig ist?», fragt Hannah Arendt in ihrer Totalitarismusstudie. Sie weist nach, wie Ideologien darauf abzielen, die «nicht mehr gültigen Regeln des gesunden Menschenverstandes zu ersetzen». Eines Menschenverstands, den Arendt als «common sense», als Gemeinsinn definiert – durch den wir eine uns allen gemeinsame Welt erfahren und uns darin zurechtfinden dürfen. Ein Zustand also, dem wir als Menschen wegen Corona seit Wochen entrückt sind.

Hannah Arendt als Briefmarke

Die Kombination von monokausalen Narrativen, inklusive virologisch basierter Datenhoheit, konstruiert ein «Zeitalter der totalen Gewissheit», die zum fast vollständigen Wegfall klassischer Urteilskraft gegenüber Richtig und Falsch führt. Deshalb spriessen Verschwörungstheorien wie Twitterpilze aus dem virtuellen Raum.

Diese «Eroberung der Welt als Zahl» treibt mich seit 2003 um, aber ich ahnte nicht, dass mir das Unglück beschert sein würde, eine meiner grössten Ängste um den Zustand der Welt an meinem eigenen Körper erleben zu müssen.

Verletzte Menschlichkeit

Dies ist kein Zufall, sondern das Resultat politischer Schlafwandler, kombiniert mit volkschinesischer Sendungsgewalt bei gleichzeitiger westlicher demokratischer Impotenz. Wer verstehen will, wie selbst die Schweizer Demokratie widerstandslos und über Nacht Hunderttausende von Existenzen ins Unglück stürzen konnte, abgefedert durch den unermesslichen Reichtum dieses Landes, dessen Bundesräte sich ständig neuer Hilfspakete rühmen, muss sich mit dem seit einem Jahrzehnt anhaltenden globalen Trend, die Menschlichkeit, ja das Wesen des Menschen selbst zu verletzen, auseinandersetzen.

Die westlichen Demokratien sind durch das chinesische Virus physisch und politkulturell in den Abgrund gestürzt worden. Sie werden dort auch bleiben, wenn sie der Asymmetrie zwischen der Volksrepublik China und dem Rest der Welt, wenn sie dem Ungleichgewicht des globalen digitalen Plattform- und Überwachungskapitalismus nicht durch ein aktives Demokratisierungsprogramm begegnen.

Es gibt keine «neue Normalität» für die Demokratien mehr, selbst nach einem möglichen Corona-Impfstoff.

Überall Menschenfeinde?

Die paternalistische Regierungsweise, dass der Staat lobt oder tadelt und darüber bestimmt, wie sich die Bürgerinnen und Bürger zu verhalten haben, die Grundrechtsverletzung, beispielsweise im Kanton Tessin alle über 65-Jährigen mit einem «Ausgehverbot» zu belegen, weiter die Enteignung von Selbständigen, von kleineren und mittleren Unternehmen mit dem Hinweis, die folgenden dreissig Jahre Schuldenwirtschaft als eine Art Solidaritätszuschlag nach deutschem Modell zu betreiben – watschen alle Demokratien und liberalen Freiheiten verfassungswidrig ab.

Dazu kommt: Die Corona-Ausnahmeregime haben mithilfe wissenschaftlich bewiesener Tatsachen, sekundiert von einer Heerschar dienender Intellektuellen- und Medienliteraten alle Kritiker der getroffenen Massnahmen als Menschenfeinde dargestellt und tun es noch. Dies mit dem Effekt, dass wir uns meinungsmässig widerstandslos, quasi über Nacht, von allen Werten verabschiedet haben, die uns bis vor kurzem noch unantastbar erschienen.

Die erste Exit-Strategie muss deshalb lauten: Lasst uns in Parrhesia üben, in Widerspruch, in Vielfalt, in gegenseitiger Akzeptanz und Toleranz bei gleichzeitiger Wahrung geltender Bestimmungen. Und es braucht dringend klare Alternativen, denn: Wer will schon Virologen über die Zukunft der Demokratie entscheiden lassen?